G. Kreis: Vorgeschichten zur Gegenwart

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Titel
Vorgeschichten zur Gegenwart.


Autor(en)
Kreis, Georg
Reihe
Ausgewählte Aufsätze 1
Erschienen
Basel 2003: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
574 S. mit 40 Abb
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benedikt Hauser

Unternimmt man den Versuch, einen Sammelband mit 41 grösstenteils schon einmal publizierten Aufsätzen ein und desselben Verfassers zu besprechen, so könnte man sich einleitend anerkennend über dessen hohe Schaffenskraft oder das beeindruckend breite Themenspektrum äussern. Geradeso gut könnte man sich aber auch in spitzzüngigen Bemerkungen über Sinn und Zweck solcher Herausgaben ergehen: Will hier vielleicht sich jemand selbst ein Denkmal setzen oder will er dafür sorgen, dass man seinen Namen möglichst oft zitiert? Kommt im vorliegenden Beitrag weder die eine noch die andere Einstiegsmöglichkeit zum Zuge, so sind dafür zwei Gründe ausschlaggebend: Hofberichterstattung oder PRSchreibe ist ein Genre, das der «Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte» fremd ist, auch wenn es sich um die Würdigung eines Buches ihres Redaktors handelt, und da es diesem nach über dreissig Jahren intensiver Tätigkeit als Forscher, Buchautor und Publizist mittlerweile nicht mehr an Bekanntheit mangelt, darf auch davon ausgegangen werden, dass es ihm nicht darum geht, die Werbetrommel für sich selbst zu rühren.

Die Aufsatzsammlung lässt sich multifunktional benützen: So kann man sie verwenden, um sich selektiv faktologisch oder konzeptuell über die aufgegriffenen Thematiken zu informieren. Lohnend ist indessen auch die Lektüre als Ganzes, denn dadurch ergeben sich Bezüge, die jedem Beitrag einzeln zusätzlich Kontur verleihen. Was den Inhalt anbetrifft, so setzt das Buch zwei Schwerpunkte: Ein erster Teil enthält unter dem Titel «Die Schweiz als Kohäsionsfabrik» Beiträge über Landesausstellungen, Denkmäler, Feiertage, Landeshymnen und Verfassungsjubiläen, die alle im einen oder andern Sinne auf die Fragestellung ausgerichtet sind, warum es nationale Identitätskonstrukte gibt, in welchem Kontext sie entstehen und wie sie sich in der öffentlichen Wahrnehmung entwickeln. Als Ausgangspunkt wird das Faktum angeführt, dass sich durch die «Demokratisierung der Politik und die damit verbundene Freisetzung unterschiedlicher Politikvorstellungen ... ein höherer Bedarf nach gemeinsamen Zeichen» artikuliert, wobei es im Gefolge des wirtschaftlichen Wandels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Ausbau romantischer Gegenwelten kam (S. 81). Nebst bekannten Beispielen geht der Autor auch auf weniger geläufige Kunstdenkmäler oder Vorkommnisse ein, wie etwa die Errichtung des Walliser Nationaldenkmals von 1919 oder den 1988 in Form eines Postulats (Nationalrat Basler, SVP/ZH) unternommenen Versuch, das von einer Überbauung «bedrohte» Schlachtfeld von Marignano aufzukaufen. Eine der Stärken des Buches ist es, dass es Kreis versteht, sogenannte Faits divers zu nutzen, um an ihnen aufzeigen, wie Topoi entstehen, was sie zum Ausdruck bringen sollen und warum die einen lieux de mémoire mit der Zeit in Vergessenheit geraten, während die anderen immer wieder neu als kollektive Referenzpunkte der Nationalgeschichte herbeigezogen werden. Zu schätzen wissen wird man auch die bis in die neuste Zeit nachgeführte Dokumentation: Wo sonst findet man auf einer Doppelseite übersichtlich dargestellt, seit wann in welchem Kanton für den 1. Mai eine öffentliche Ruhetags-Regelung besteht bzw. fehlt, und wo andernorts liesse sich mit einem Griff verlässlich in Erfahrung bringen, was schliesslich aus der Sentinelle von Les Rangiers geworden ist? – Der Granitkörper des geschleiften Torsos wurde ins Lager des kantonalen Strassenbauamtes von Glovelier verfrachtet, wo er 1990 infolge eines mit Pneus und Feuer durchgeführten Anschlags in mehrere Stücke zerbarst.

Der zweite Teil des Buchs trägt die Überschrift «Die Schweiz als Verständnisproblem» und gilt der Geschichtsschreibung der Eidgenossenschaft. Kreis beginnt mit einem Parcours, der zeigt, wo sich bei den Themen und den Fragestellungen Schwerpunkte erkennen lassen und in welchem Kontext die Akzente sich verschoben. Dabei wird skizzenartig dargestellt, wie auf die «Konsensgeschichte» die «Krisengeschichte» folgte und wie letztere auf Auseinandersetzungen zwischen Konfessionen, Stadt und Land oder Reich und Arm ausgerichtet wurde (S. 286). Der Autor gibt auch einen Überblick über die seit 1970 verfassten Gesamtdarstellungen und ihre Rezeption, und er schildert ebenfalls die Entwicklungen der letzten Jahre bezüglich der Geschichte der Schweiz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Zu Recht hebt Kreis dabei die Dualität der Abgrenzung vom ausländischen Umfeld und der Verflechtung mit dem internationalen Kontext als eines der wohl wichtigsten Hauptcharakteristika der modernen Schweiz hervor, das ihm gleichsam auch als Klammer für den themenübergreifenden Zusammenhalt der behandelten Bereiche dient. Zu nennen sind dabei primär die Beiträge zum Verhältnis der drei Sprachregionen zu einander, zur Verkehrsgeschichte, zur Asyltradition und zu den verschiedenen Reformen der Verfassung.

Kreis Buch wird man als Arbeitsinstrument nicht missen wollen. Nicht zuletzt auch deshalb hätte man es ebenfalls begrüsst, wenn beim einen oder andern Beitrag der Blickwinkel des Insiders erweitert worden wäre und wenn man kurz darauf verwiesen hätte, dass man einzelne Thematiken heute sehr wahrscheinlich unter einem etwas andern Licht betrachten würde. Spricht man beispielsweise vom Schweizer Armeeangehörigen Ernst S., der 1942 als 23-Jähriger für den Diebstahl von fünf Handgranaten und die Weitergabe einer ungenauen Skizze über eine als geheim eingestufte Militäranlage wegen Landesverrats zum Tode verurteilt und erschossen wurde, dann hätte man die Beschreibung der darob mit Niklaus Meienberg geführten Kontroversen straffen und Details wie beispielsweise das in einem kurzlebigen Gratisblatt ausgetragene Scharmützel zwischen dem Verfasser und einem anderen Historiker, der sich nebenbei in der Rolle des Politclowns zu gefallen scheint, ohne Qualitätseinbusse ganz beiseite lassen können. Verglichen mit dem Fall Ernst S. wirken solche Streitereien für die nicht direkt Beteiligten als sprödes akademisches Gezänk, mit dem man wenig anzufangen weiss. Stattdessen wäre hier vielleicht der Hinweis angebracht gewesen, dass man diesbezüglich einen Lernprozess vollzogen hat: Einzelschicksale der jüngeren Geschichte werden mittlerweile auch hierzulande ohne Larmoyanz, Polemik oder klassenkämpferische Militanz aus der Sicht der Opfer bzw. der Betroffenen historisch untersucht, und gerade Forschungsfelder wie das Zusammenleben von Soldaten unter sich oder die Beziehungen zwischen Untergebenen und Vorgesetzten sowie die Art und Weise der Verstösse gegen Regeln bzw. deren Ahndung zählen heute zu den Fragen, denen man im Rahmen der New Military History besondere Beachtung schenkt1. Und die einprägsame Schilderung des Leidenswegs der Schweizer Zeitgeschichte bzw. ihrer grossen Lücken hätte sich noch mehr verdeutlicht, wenn dabei verstärkt auch der Bezug zur Diskussion der Problematik in anderen Ländern vorgenommen worden wäre2.

Randbemerkungen wie die soeben angeführten Punkte ändern freilich nichts am Hauptbefund, dass Kreis Aufsatzsammlung Lesestoff enthält, der spannend und erkenntnisfördernd ist, zumal das Buch gleich mehrfach auch auf Themen von zentraler Wichtigkeit für das Verständnis der modernen Schweiz verweist, die nach wie vor historisch leider kaum vertieft behandelt worden sind. Nebst der Verkehrpolitik sind dies unter anderem Bereiche wie die Beziehungen zwischen Bund und Kantonen in der jüngern Zeit oder die Frage des unterschiedlichen Krisenverständnisses zwischen Deutsch- und Westschweiz. Zu wünschen ist, dass die Aufsatzsammlung dazu anregt, diese Defizite zu beheben.

1 Dazu vgl. Omer Bartov, Germany’s War and the Holocaust. Disputed Histories, Cornell University, Ithaca/London 2003, S. 70ff.
2 Zu dieser Thematik vgl. Nr. 1, 2003.

Zitierweise:
Benedikt Hauser: Rezension zu: Georg Kreis: Vorgeschichten zur Gegenwart. Ausgewählte Aufsätze. Band 1, 574 S. mit 40 Abb. Basel, Schwabe, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 2, 2004, S. 228-230.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 2, 2004, S. 228-230.

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